4.12.17
Chilis, Zitronen und Kokosnüsse...
Urlaub zu sechsundvierzigst
19.11. –
25.11.2017
Nach Wochen von stetig steigender Spannung, enthusiastischem
Packen und einer sehr kurzen Nacht versammeln sich 24 Special Friends, 19 Mitarbeiter,
zwei Köchinnen und ein Busfahrer in der Morgendämmerung vor den Toren von
Friends of Camphill India. Wir haben uns zu Teams zusammengetan, sodass ein
Mitarbeiter ein oder zwei Friends auf der Reise begleitet. Ich stehe neben
Javeria in der Morgenbrise, in meiner Tasche knistert eine Kotztüte, die mir
dringend empfohlen wurde, da Javeria Urlaub liebt
– so sehr, dass ihr vor Aufregung und vom Rütteln des Busses zuverlässig
speiübel wird. Im Bus setze ich mich also auf den Fensterplatz und bastle eine
Schlafmaske aus meinem Schal, um sie von der vorbeiziehenden Vorstadt
abzuschirmen. Wenig später sind wir selig aufeinander eingeschlafen.
Mit einigen Zwischenstopps für das leibliche Wohl – von denen
Javeria ausgeschlossen bleibt, erfolgreich, sie übergibt sich nicht - fahren wir neun Stunden gen Süden bis wir die
Serpentinen hinauf zum PN Heritage erreichen. Dieses
Ressort liegt inmitten von hauseigenen Kaffeeplantagen auf einem sonnigen Hügel,
von dem sich ein idyllischer Blick auf Reisfelder, weidende Kühe und mehr Kaffeeplantagen
eröffnet. Von weitem sehen diese aus wie Wälder, denn der Kaffee robusta
benötigt den Schatten von hochgewachsenen Bäumen. In schnurgeraden Reihen
wachen sie über die Kaffeebüsche mit ihren dunkelgrünen, glänzenden Blättern,
deren Äste von grünen, später purpurnen Beeren übersät sind. Unter einem
dünnen, süßen Fruchtfleisch verbirgt sich die Kaffeebohne, zwei weiße Hälften
gemeinsam ein Rund ergebend. Roh und bleich ist sie völlig geschmacklos. An den
schlanken Stämmen der Schattenbäume rankt eine unauffällige Kletterpflanze in
die Höhe, die Kaskaden kleiner Kugeln als Früchte trägt. Diese schmecken auch
im rohen Zustand schon eindeutig: Es ist Pfeffer.
Des Weiteren sind von hier die vielen Vögel, die die Umgebung
bevölkern, zu sehen und zu hören. Besonders prominent sind die Beecatcher, etwas
größer als Spatzen, grasgrün und mit einer dreieckigen Silhouette während des
libellenartigen Fluges. Auch die schneeweißen Kuhreiher sind aus weiter Ferne
zu entdecken, wenn sie hinter den Rindern herschreiten und auf der Haut sowie
im Dung der Tiere nach Insekten suchen. Einen besonders lauten Gesang haben die
Barbets, die ähnlich wie Frösche klingen. Die Vogelvielfalt findet sich auch in unseren Zimmern
wieder, die die Namen einheimischer Vögel tragen. Zu siebt wohen wir diese Woche im Zimmer Brahmini Kites.
Wir verbringen den Großteil des Urlaubs bei Sonnenschein und
milder Wärme im schön gestalteten Ressort, spielen Federball, Basketball,
Fußball, Frisbee, Schach, malen Postkarten an unsere Familien bis die
Blockflöte uns zum Essen ruft und wir ein Gebet singen, bevor wir uns an den hervorragenden
Mahlzeiten laben, die gerade die Camphill-Köchinnen sehr genießen, so sie doch
ausnahmsweise keinen Finger rühren mussten.
„No bread
without Sun, no Sun without God, no Soul without Life, no Life without Love“
“Kein Brot ohne Sonne, keine Sonne ohne Gott, keine Seele
ohne Leben, kein Leben ohne Liebe”
Über das Highlight des Estates sind sich jedoch alle einig.
Der Swimmingpool begeistert alle Mitgereisten gleichermaßen. Wenn es Zeit für
das gemeinsame Schwimmen wird, springen Einzelne ausgelassen ins Nass und rufen
die Anderen begeistert hinein, lachend springen Coworker hinterher und nehmen abwechselnd
Friends auf den Armen mit ins Wasser oder helfen Mitarbeitern, die selbst nicht
schwimmen können. Es ist ein chaotisches, lautes, wunderbares Bild, erfüllt von
Lebensfreude, dem ich stundenlang auch nur zusehen kann.
Zu einem gelungenen Urlaub gehören natürlich Ausflüge ins
Umland. Das Dubare Elephant Camp ist unser erstes Ziel, zu dem wir uns früh am
Morgen aufmachen, um vom ersten Augenblick an beim ausführlichen Bad der
Elefanten dabei zu sein. Die Dickhäuter schwanken einer nach dem anderen
würdevoll hinunter ins Wasser, auf ihrem Nacken klemmt ein Reiter, der sie mit
einem spitzen Haken in die richtige Richtung weist und zum Hinlegen im Wasser
auffordert. Kälber, Kühe und Bullen leisten Folge, nur bei einem großen Bullen
regt sich Widerstand, er trompetet und weicht aus, ist noch nicht daran
gewöhnt, Anweisungen zu erhalten. Die Elefanten stammen aus den umliegenden
Wäldern und verdienen das Geld für ihre eigene Pflege und den Schutz ihrer wild
lebenden Verwandten. Mit dem größten Teil der Community begeben wir uns nach
und nach ebenfalls ins Wasser, wo die Elefanten mit Wasser bespritzt und mit
den Händen abgerieben werden. Die dicken Borsten auf ihrer festen Haut, die Quasten
an ihren Schwänzen, die Löcher in ihren dünnen Ohren und die riesigen Stoßzähne
dürfen wir bewundern und berühren. Die Augen, hellbraun und tiefsinnig blicken
aus seltsamen Gesichtern aus denen graue Schlangen wachsen, die ständig in
Bewegung sind, sich kringeln, prusten, spritzen und greifen. Und ich bin
überwältigt, dass ich schon im Kindergartenalter zum ersten Mal einem Elefanten
begegnet bin, abertausende Kilometer entfernt von seiner Heimat.
Was ich an diesem Tag außerdem gelernt habe: Boote können
sehr aufregend sein. Auf Hindi heißt Elefant Hathi und Baloo Bär, wie im
Dschungelbuch.
Tags darauf stehen die ebenso aufregenden Camphill Olympics
an. Red Warriors, Blue Rockets, Green Geese und Orange Backache Bunch treten
gegeneinander an in einer Reihe von Spielen. Wir werfen, rennen, essen um die
Wette, tanzen und heben einander in die Höhe. Ein gut geplanter, anstrengender
Vormittag kulminiert in der Siegerehrung mit Lebkuchenmedaillen in der mein
Team Blau sogar den zweiten Platz belegt! In der Abenddämmerung tanzen wir
ausgelassen zu indischem Pop, den gelungenen Tag und den 33. Geburtstag von
Neha gilt es zu feiern.
Um auch die kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen, machen
wir uns anderentags auf, um den Goldenen Tempel zu besuchen, der Teil eines im
letzten Jahrhundert gegründeten, etwa 3.000 Mönche starken buddhistischen
Klosters ist, das, den Souvenirshops und Menschenmengen nach zu urteilen, ein must see für jeden Coorg-Reisenden ist.
Viel zu schnell durchwandern wir die Anlage, sitzen dann eine Weile in einem
kleineren Gebetsraum. Hinter dem Absperrseil treibt sich ein Kater herum,
streift vorbei an Öllampen, macht halt vor den hinter Glas aufbewahrten
vergoldeten Buddhastatuen und schärft sich die Krallen an einem abgenutzten
Gebetsteppich, wandert über den Marmorfußboden an uns vorbei ohne uns auch nur
einen Blick zu gönnen und gleitet schließlich in den Hof, das offene Fenster wie
ein Portal in eine andere Welt im Kontrast zu den Wandfresken mit strahlend grünen
Hügeln auf denen weiß- und grünhäutige Buddhas meditieren unter sattblau bemalter Himmelsdecke.
Zu unserem Glück besteht Francis darauf, das Gespräch mit einem Mönch zu suchen
und ein alter Herr mit tausend Lachfalten nimmt sich eine halbe Stunde Zeit, um
uns eine zentrale Lektion mit auf den Weg zu geben. Lernt fleißig, investiert
all eure Bemühungen in euer Wissen, denn nur aus Wissen folgt Können. Harte
Arbeit und Durchhaltevermögen machen alles möglich.
Am letzten Abend des Urlaubs veranstalten wir einen
kulturellen Abend für unsere Gastgeber, in dem wir unsere wohlbekannten Lieder
singen, tanzen und Zeit für die Reflektion unserer Zeit finden, als ein jeder
für etwas dankt, das wir teilen durften. In einer weiteren Runde äußert jeder
von uns einen Wunsch für sich selbst, ich sage, ich wünschte ich wäre mutiger
und muss in der nächsten Runde schreien: Ich bin mutig! Und die Runde antwortet
mir, ich sei mutig, ein feierlicher und starker Moment von Ehrlichkeit und gegenseitigem
Halt.
Als wir am Samstag schließlich zurückkehren, haben wir den Eindruck,
weit länger als eine Woche fort gewesen zu sein. So lang erschien mir die Zeit
nicht seit einer allerersten Woche im Camphill, so viel haben wir gemeinsam
erlebt. Das Fremdeln mit dem Alltag hält jedoch nicht lang an, schon stehen wir
beim ersten Abwasch und am nächsten Morgen läutet die Glocke pünktlich zum
Wecken…
10.10.17
Regen.
Seit Mitte August halten die Monsunschauer an. Für einige
Regionen Indiens bedeutet diese Jahreszeit pausenlos anhaltenden Regen über
Wochen. Im gemäßigten Klima Bangalores dagegen regnet es ungefähr zweimal täglich,
am Nachmittag und im Verlauf der Nacht. In diesem Jahr ist der Monsun
außergewöhnlich heftig, innerhalb von einem Monat wurde die Niederschlagsmenge,
die im Durchschnitt im ganzen Jahr fällt, überschritten. Der ungewöhnlich
heftige Monsun hat in breiten Landstrichen zu heftigen Überschwemmungen geführt
und Zerstörungen angerichtet, die ich mir nicht vorstellen mag, hier vor Ort
sind nur ausbleibende Besucher, die an überschwemmten Straßen scheitern,
Zeichen der Katastrophe.
Der Monsun in Bangalore hat viele Gesichter.
Nach einem wolkigen Vormittag machen wir es uns in der
Mittagspause in der Bibliothek bequem, und öffnen die Fenster, weil die Luft
nach Regen riecht. Donner knurrt, die Wolken über uns machen sich zum Sprung
bereit, die Luft ist kitzlig von Gewitterspannung und dann platscht der erste
Tropfen schwer zu Boden, im nächsten Moment folgen Millionen seiner Art und vor
den Fenstern ist nur noch eine Wand aus Wasser. Es regnet keine Bindfäden
sondern ganze Drahtseile, die die hohen Kokospalmen unter sich biegen, als ob
sie zerbrechen sollten. Draußen rauscht es so laut, dass wir einander nicht
mehr verstehen können. Es blitzt ein paar Mal, Donner grollt, nur 20 Minuten
später ist der Spuk vorbei und ein unschuldiger Sommerregen raschelt zu Boden.
Den Tee nach der Mittagspause nehmen wir im Wohnzimmer statt draußen ein und
der Tag nimmt seinen Gang.
In unserer 40 köpfigen Gemeinschaft wird eine Menge Wäsche
gewaschen, die jeden Tag in der nicht immer zuverlässigen Sonne trocknet. Wenn
zur Mittagszeit der Himmel dunkel wird und die Luft etwas dicker, unterbrechen
wir, was immer wir gerade tun, mit dem Ruf „We have to save the laundry!“ und
hechten auf das Dach um die sonnengewärmten Kleider noch vor dem Platzregen von
den Leinen zu reißen und ins Trockene zu bringen. Ist das erledigt, darf der
Workshop, das Essen, das Meeting weitergehen.
Die Tage im Camphill enden zwei Stunden, nachdem die
Dunkelheit hereinbricht. Vom Haus Antaranga, in dem ich arbeite, laufe ich also
im Dunkeln zum Haus Santvana, in dem ich schlafe. Häufig funkeln Sterne aus
fremden Positionen hinunter, verbergen sich dann schnell wieder hinter den
langsam ziehenden Wolken. Eulen und Insekten singen die Symphonie der Nacht in
tausend Stimmen. Vor dem nachtblauen Himmel heben sich die Baumwipfel
pechschwarz ab, über denen nicht selten Schwärme riesiger Fledermäuse ihre
Kreise ziehen – ob es Flughunde sind oder blutrünstige Vampire fällt mir als
Laie schwer zu beurteilen, doch die Flügelspannweite von mindestens 50 cm lässt
mich auf letzteres tippen.
So sind die friedlichen Nächte, in denen wir gemeinsam auf den Wasserturm klettern und auf das Dorf schauen.
So sind die friedlichen Nächte, in denen wir gemeinsam auf den Wasserturm klettern und auf das Dorf schauen.
Doch zur Monsunzeit gehören Abende, in denen gespannte
Stille herrscht und der Himmel völlig dunkel ist, bis plötzlich ein violetter
Blitz den Himmel zerschneidet und finsterer Donner poltert, alle paar Minuten
etwas näher. Dann ertönt ein Rascheln in den Palmen und der Himmel öffnet seine
Pforten, der Regen rauscht darnieder als gäbe es kein Morgen und wenig später
ist die Straße ein rauschender Bach, aus dem nur die Sitzbänke ragen, auf denen
ich meinen Weg zwischen den Häusern zurücklege bis der Sprung ins kalte Wasser
unvermeidlich ist. Adrenalin schießt mir in die Adern, von allen Seiten tönt
das unfassbar lautes Rauschen des Wassers, das mich von oben durchnässt, durch
das ich wate, es knallt der Donner ohrenbetäubend. Der Regen spült in dieser
Nacht Unmengen von Sand vom oberen Teil des Grundstückes nach unten in den
Garten. Das frisch gepflanzte Gemüse ist Geschichte, stattdessen macht sich der
Gartenworkshop daran, den Sand von der Straße zu schaufeln und in die kleinen ausgespülten Gräben zu füllen.
Nach einer verregneten Nacht geht die Sonne auf, so freundlich strahlend, als wollte sie ihre Abwesenheit wett machen. Gegen halb acht sitzen wir auf den Bänken und trinken den ersten Tee, als die Sonne hinter dem Haus Santvana zum Vorschein kommt und zwischen den Blättern der Palmen feine Straßen entstehen, gemacht aus Regen und Licht, wie schwebender Silberstaub, durch den die Spinnen Fäden aus Gold gewoben haben, als wollten sie ihn einfangen und für sich behalten. Die Straßen treffen auf die Bäume, unsere Füße und Gesichter, es sieht aus wie eine Segnung des Camphills.
Eines Nachmittags, es ist recht dunkel, sodass wir uns zum ersten Mal fragen, wo im Workshophaus eigentlich die Lichter angehen, werden wir von erstaunlich wenigen Mücken geplagt. Mit angestrengten Augen sind wir bei der Arbeit, wir weben in kleinen Rahmen und riskieren nur ab und zu einen Blick aus dem Fenster, die typische Spannung, die Regen verspricht, liegt in der Luft. Bedrohlich rumpelt es von draußen, die Minuten ziehen sich lang und länger und dann platzt die schwarze Wolke wie ein Wasserballon, draußen geht ein Unwetter nieder, das das Gras zerstampft, die Büsche schrumpfen lässt und Bäume nieder drückt. Auf dem Dach trommelt es wie aus tausend Pauken und durch jedes offene Fenster sprüht das Nass. Wie gebannt vom Anblick der grauen Wasserwand dauert es eine Weile, bis wir merken, dass es auf unsere Köpfe tropft und im Gebetsraum bereits eine große Pfütze den Boden ziert. Den Rückweg nach der Arbeit treten wir bedächtig an, jeder Mitarbeiter nimmt ein oder zwei Friends unter seinen Schirm und tapst durch die Pfützen bis unters Vordach, um für die Zurückgebliebenen eilends kehrtzumachen. Die meisten Friends werden behandelt, als seien sie aus Zucker, denn sie sind anfällig für Erkältungen, die in 90% der Fälle das Ausmaß einer ausgewachsenen Männergrippe annehmen und daher tunlichst vermieden werden sollen.
Nicht selten bringen die Gewitter die in den oberen Etagen
einquartierten Mitarbeiter um den Schlaf, die Geräuschkulisse lässt vermuten,
dass die Niagarafälle zeitweise über das Camphill umverlegt wurden. Nach
solchen Nächten ist es auch wahrscheinlich, dass der Sitzkreis im Garten zum
Swimmingpool verwandelt ist.
Der "Swimmingpool" unter normalen Umständen: Ein Sitzkreis |
An einigen Sonntagen musste wegen Regen und/oder Matsch der
zweistündige Spaziergang ausfallen, stattdessen versuchten wir Boote für den
Pool zu bauen (und scheiterten) oder genossen es, gemeinsam einen Film
anzuschauen. Noch nie habe ich ein so begeistertes Publikum erlebt, das zur Filmmusik
tanzt, bei jeder komischen Szene in Gelächter ausbricht und am Ende des Filmes
Beifall klatscht.
Im Verlaufe der Wochen stieg die Feuchtigkeit auch zunehmend
in die Kellerräume, wo ich nächtige, sie sind dunkel und wurden sehr klamm, was
zu appetitlichen Auswirkungen führte: Wir kämpften mit schimmelnden Büchern,
Hüten, Gürteln, Holzgegenständen und sogar unsere Pässe wurden grau meliert,
was die Wohnsituation insgesamt doch eher ungemütlich machte. Die Situation
kulminierte schließlich in der völligen Überflutung der Kelleretage, wo das
Wasser an mehreren Stellen ununterbrochen aus den unteren Enden der Wände
quoll. Das Wasser stand bis zu 20 cm hoch und was zu niedrig gelagert war, war
völlig durchnässt – darunter auch ein Gast, der mit Matratze auf dem Boden
schlief. Zu unserem ausgesprochenen
Glück schliefen wir in den Flutnächten nicht in unserem Zimmer, sodass uns die
katastrophalsten Auswirkungen des Monsuns erspart blieben.