Raksha Bandhan
Der kleine rote Kalender, in den ich täglich eintrage, was mich
bewegt, quillt über von teilenswerten Momenten, die ihren Weg in dieses
elektronische Tagebuch nicht finden wollen. Gezwungen, eine Auswahl zu treffen,
möchte zunächst die Festivals, die die Gemeinschaft begeht, im Nachhinein
ergänzen. Sie sind meine wichtigsten Lehrer indischer Kultur.
Die hinduistischen und christlichen Feste spielen eine
zentrale Rolle im Leben der Camphill-Gemeinschaft. Im Abstand von wenigen
Wochen wird der alltägliche Rhythmus unterbrochen, Freude am Feiern löst die
Pflicht ab. Die Festivals bieten Gelegenheit, sich mit Tradition und ihren
spirituellen Hintergründen zu befassen und bereichern einen Jeden. Für die
europäischen Außenseiter sieht diese Bereicherung natürlich anders aus als für
indische Mitarbeiter oder die Friends, doch am Ende des Tages ist der
gemeinsame Nenner recht schnell gefunden: „Festival Food is the BEST!“
Meine Ankunft in Indien liegt im heiligen Monat Shavana, in
dem zwei wichtige Festivals gefeiert werden. Schon an meinem dritten Tag, als ich noch
genug damit herausgefordert bin, die Namen Antharanga und Santvana in
Erinnerung behalten zu wollen, wird Raksha Bandhan gefeiert. Am Abend des 07.
August 2017 findet sich die Gemeinschaft im fünfeckigen Haus Panchanga
zusammen, das nur von Kerzenschein erhellt wird und vom Duft der
Räucherstäbchen erfüllt ist. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Linie,
die mit in einer dekorativen Wellenform auf den Boden gezeichnet ist. Auf ihre
linke Seite begeben sich alle Männer, auf der rechten lassen sich die Frauen
nieder. Alle haben sich herausgeputzt und sitzen in aufgeregtem Schweigen auf
den Gebetsmatten. In der Mitte des Raumes ist eine brennende Öllampe und
Kumkumpuder zu entdecken, auf einer anderen Platte befinden sich bunte
Armbänder und einige Süßigkeiten. Endlich beginnt Francis die Feier und ihr
Mann Anantha erklärt, was es mit dem Raki-Festival auf sich hat. Raksha Bandhan
ist die Feier von Bruder und Schwester. Die Tradition hat nordindischen
Ursprung und dank ihrer Bedeutung im ganzen Land Anklang gefunden. Der Name
Raki stammt aus der altindischen Sprache Sanskrit und bedeutet „Band des
Schutzes“. Einmal im Jahr versprechen Brüder ihren Schwestern, sie ihr Leben
lang zu beschützen und ihnen stets Unterstützung zu bieten. Im Gegenzug bitten
die Schwestern Gott um Reichtum, Gesundheit und Glück für ihre Brüder. So wird
die geschwisterliche Zuneigung und Fürsorge regelmäßig bewusst gestärkt und in
einem Ritual zelebriert. Im Camphill nimmt das Festival einen besonderen
Stellenwert ein. Die Beziehung der Community-Mitglieder zueinander ist bei
solch engem Zusammenleben auch geprägt von Spannungen, da einerseits Konflikte
entstehen, andererseits nicht wenige Bewohner sexuelles Interesse zeigen.
Letzteres spielt in unserem alltäglichen Verhalten eine erstaunlich große Rolle.
Nie dürfen Mann und Frau zu zweit allein bleiben, stets müssen wir bei der Wahl
unserer Kleidung wachsam sein, dürfen keinen Raum für anzügliche Blicke
schaffen und uns nicht auf Körperkontakt einlassen. Dieser Aspekt meines neuen
Lebens ist mit Sicherheit die größte kulturelle Umstellung, die ich erlebe.
Plötzlich wird mir bewusst, wie viel sich doch im deutschen Alltag darum dreht,
attraktiv zu wirken, und wie selbstverständlich kleine unverbindliche
Annäherungen an das andere Geschlecht sind. Noch immer (nach 40 Tagen) macht es
mir Schwierigkeiten, zu verinnerlichen, dass ich keinem Mann eine Kopfmassage
geben darf, wenn er danach fragt, ein besonderes Outfit für einen Festtag unter
keinen Umständen besonders eng sein darf und die Henna Tattoos nur von Frau zu
Frau aufgetragen werden dürfen. Hintergrund dessen ist es, sexuelle Reize zu
unterdrücken. „Die Friends sind hier, weil sie nicht dazu in der Lage sind, ein
selbstständiges Leben zu führen. Wie sollen sie eine Beziehung führen können? Die
Verantwortung von emotionalen und körperlichen Implikationen solcher Handlungen
tragen? Wie sollen wir Missbrauch verhindern? Wir wollen diese Ebene unberührt
lassen.“
Raksha Bandhan ist ein Mittel für Francis, daran zu
erinnern, wie die Beziehung zwischen Mann und Frau hier aussehen soll:
Geschwisterlich. Für ein Jahr wird per Los ein Geschwisterpaar bestimmt, das im
kommenden Jahr besonders auf das Wohlergehen des jeweils Anderen achten soll. Bis
ich an die Reihe komme, bezeuge ich frischgebackene Geschwister, die die Zeremonie voller
Freude begehen, Andere sind schüchtern, wieder Andere haben motorische
Schwierigkeiten oder auch Probleme, die ausgewählte Person zu akzeptieren…
Dann, endlich, ruft Francis meinen Namen aus, danach den von Vishvanath, der
mit einem lauten „Ajooo!“ antwortet – das bedeutet „Och nein!“ – meine Freude
sinkt etwas. Doch dann konzentriere ich mich voll und ganz darauf, die Gesten
der Zeremonie fehlerlos durchzuführen. Zuerst hebe ich die Öllampe vor
Vishvanaths Gesicht und vollziehe drei Kreise gegen den Uhrzeigersinn mit dem heiligen Feuer. Dann
entnehme ich dem Teller etwas rotes Kumkum und male mit dem Ringfinger einen
Punkt in die Mitte der Stirn meines Bruders, was sich als schwierig
heraustellt, da das Puder im Gesicht nicht so gut klebt wie am Finger. Als er
einen ungeschickten, schiefen Bröselpunkt erhalten hat, greife ich schnell nach
einem grünen Raki, das ich um seine rechte Hand knote, es ist ihm jedoch zu
locker, was mir erst nach mehrmaligem Nachfragen verständlich wird. Ich bin
froh dass man mich im Kerzenlicht nicht erröten sieht und versuche hastig, das
Band enger zu knoten. Ich bin erleichtert, als ich die Süßigkeit in seinen Mund
lege und mein Teil der Zeremonie vorüber ist - dieselben Gesten von seiner
Seite erhalte ich mit Freude. Mein Raki ist knallorange mit goldenen und
silbernen Steinchen. Seither grüße ich Vishvanath stets mit „Hello Brother!“
und höre öfter, wie es ihm geht, als von den meisten anderen Männern.
Mein erstes Festival war so schön wie bedeutungsvoll. Die
Bedeutung der folgenden Festivals war aber auch deutlich schwieriger zu erfassen….