18.8.17

Ein Bruchteil Indiens

Friends of Camphill India. Das ist eine Welt für sich. Eine Welt, die mit meiner deutschen Heimat kaum etwas gemeinsam hat und doch nach nur Stunden die Geborgenheit von Zuhause ausstrahlt.



Die bekannten Gesichter vom Seminar lassen vom ersten Tag an kein Gefühl von Fremde zu. Die warme Freundlichkeit der uns Emfangenden und der wunderbar chaotische Garten voller unbekannter Pflanzen, leuchtenden Blüten und exotischen Früchten, unter dem eine natürliche Abwassserfilteranlage liegt, umgeben mich, auf Anhieb fühle ich mich wohl. 




Die indischen Namen von Menschen, Tieren, Früchten, Gerichten, Häusern machen mir große Schwierigkeiten, aber dafür haben alle Verständnis – schließlich bin ich ja nicht die erste deutsche Freiwillige, in drei Bilderrahmen im Haus Panchanga sind hunderte Gesichter der 17 Freiwilligen-Generationen vor uns zu sehen, davon schätzungsweise 60% Deutsche. Sie haben uns den Weg geebnet, Bürokratisches und Kulturelles wurde schon oft durchgespielt und vor allem Gründerin Francis weiß, worauf es ankommt. Sie nimmt sich viel Zeit für uns und vermittelt ernsthaftes Interesse an unseren Gedanken über das kommende Jahr, beantwortet geduldig alle Fragen und beweist sich als tolle Ansprechpartnerin. Sie wirft kritische Blicke, die Fauxpas‘ verhindern. Das betrifft  in erster Linie die Kleiderordnung, mit der wir uns an die neue Umgebung anpassen müssen. Es stellt sich heraus, dass  das einzige mitgebrachte Kleidungsstück, das ich hier anziehen kann, eine Kurta ist, die ich kurz vor meiner Abreise geschenkt bekommen habe. Die Kurta, ein langes, mit Seitenschlitzen versehenes Oberteil in Kombination mit einer lockeren Hose, ist nun mein tägliches Outfit. Die Kleidung darf keine weiblichen Rundungen erahnen lassen, um vor männlicher Aufmerksamkeit zu schützen – das betrifft die Arbeit mit den Friends ebenso wie Ausflüge. Ich habe das Glück, dass viele Frauen vor uns fleißig eingekauft haben und viel zurückgelassen haben, sodass ich ganz ohne Shopping gut ausgestattet bin. 

Gemütlich angezogen darf es losgehen mit der Arbeit. Die Friends sind neugierig auf Neuankömmlinge und suchen unsere Aufmerksamkeit. Auf Anhieb wird eine der Hauptlektionen unseres Vorbereitungsseminares wichtig: Grenzen kennen, Grenzen ziehen. Ich kenne die Grenzen hier nicht und weiß nicht wie ich sie ziehe, deswegen zieht stattdessen Javeria mich mit sich, um die Kühe zu begutachten, die streichelzahm sind und einen Teil der Gartenarbeit übernehmen. Die Bedürfnisse der Friends sind sehr unterschiedlich. Javeria sucht Aufmerksamkeit, andere brauchen Gesprächspartner, Freunde, wieder andere nur eine funktionierende Struktur. Es ist für uns, denen all diese Menschen noch Fremde sind, schwer einzuschätzen, was wir ihnen geben sollen und wollen. Die junge Bewohnerin Rushita hat in unserer ersten Woche während der wertvollen Mittagspause den herzergreifenden Wunsch einer „Girls‘ Party“ mit ihren von Zuhause mitgebrachten Süßigkeiten in den Wohnräumen der Mitarbeiter geäußert – eine Situation in der wir die Grenzen kennen mussten, um nicht unsere eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen.  


So manches hier bedarf Gewöhnung, es ist nicht jedes Tier so wohl bekannt wie die Kühe, die in unserem Garten, neben der Bäckerei oder auf dem Gehweg umherlaufen. Eine fantastische, unmöglich zu benennende Vogelvielfalt fällt ins Auge. Über alle Bäume toben graue, gestreifte Eichhörnchen, zu ihren Wurzeln sitzen riesige Echsen.
Seltener auf Bäumen denn auf Häusern und Werbetafeln sind Affenfamilien anzutreffen. Draußen und drinnen plagen uns Moskitos, die meine Beine trotz langen Hosen völlig zerstochen haben. Im Schlafzimmer haben wir aber auch schon Begegnungen mit Geckos, Gottesanbeterinnen und Spinnen gemacht, die aber lange nicht so aufregend waren wie eine riesige Kakerlake, die sich in einem Handtuch im Gemeinschaftsbad versteckt hatte und unter Geschrei mit einem Besen erschlagen wurde. Auf der Toilette kann auch mal ein Frosch mit schwarzen Knopfaugen von der Wasserdüse blicken. Die Abwesenheit von Toilettenpapier ist übrigens verkraftbar, zudem wir das Glück haben, westliche Toiletten zur Verfügung zu haben. Eine größere Umstellung ist schon eher die Dusche, für die nicht mehr als 6 Liter gebraucht werden sollen, die aus einem Stahleimer geschöpft werden. Es gibt warmes Wasser und eine fest eingeplante Reinigung des Badezimmers, für die ich sehr dankbar bin, denn Energie für Putzaktionen haben wir in unserer freien Zeit nicht, was sich im Zustand der Zimmer widerspiegelt.
Als ebenso sehr gewöhnungsbedürftig habe ich die Yogastunde, die jeden Mittwoch stattfindet, empfunden. Aus der Stadt kommt eine Lehrerin, die nach zwei Mantren beginnt, im Kommandantenton Bewegungen anzuleiten, die eher an die Erwärmung im Schulsport erinnern, als an das Yoga, das ich aus Deutschland kenne. Weder für Atemübungen noch für das Nachspüren im Körper gibt es Raum, jedes Auf und Ab, jedes Vor und Zurück wird laut mitgezählt. Die einzigen mir bekannten Asanas sind die Katze und der Baum, der sich für die meisten Friends als große Herausforderung herausstellt.


Schon der Alltag im Camphill steckt zu Beginn voller Überraschungen und spannender Begegnungen. Die ersten Schritte hinaus auf die Hauptstraße sind jedoch zunächst eine völlige Überforderung von Eindrücken. Für die Registrierung als ausländische Bewohner brauchen wir Bilder vom Photoshop im Dorfzentrum. Als wir die ersten Schritte aus dem Schatten der Bäume tun, brennt plötzlich die Sonne auf unsere Köpfe und Staub in unseren Kehlen. Wir laufen am Straßenrand, grell hupende Autos, knatternde Rikshas, Motorradfahrer mit Blechhelmen, bunt geschmückte LKWs kommen uns entgegen, plötzlich ist es zu laut und zu voll, um sich zu unterhalten. Im Gänsemarsch gehen wir vorbei an Handwerkern, Obstgeschäften, unmöglich vielen Kiosken und herübersehenden Indern, deren Augen so dunkel sind wie ihre Haut. Die Friends im Camphill stellen im Gegensatz hierzu eine edle Blässe zur Schau, sonnengeschützt im kleinen Kokospalmenparadies. Im Dorfzentrum turnt ein Affe auf einer Statue herum, dahinter liegt der Photoshop, der aus ungefähr drei Quadratmetern Büroraum und einem kleinen, schlecht beleuchteten Studio besteht. Ein explosionsartiger Blitz brennt sich in unsere Netzhaut und bannt unsere Gesichter auf die Digitalkamera. Für etwa 3 Euro nehmen wir 3 mal 6 Bilder mit.  
In den Seitengassen des Dorfes herrscht eine andere Atmosphäre, es ist still und eng. Vor den Häusern ist ausnahmslos ein Rangoli gemalt, ein Kreidemandala, das täglich erneuert wird und traditionell positives Denken in das Haus bringen sollen. In den komplizierten Designs verfangen sich die negativen Energien, die in der Außenwelt ebenso vorhanden sind wir positive Energien. So wird das Haus geschützt und Tag für Tag attraktiv für den Segen der Götter. Auch vor Antaranga, das Haus in dem ich arbeite, wird jeden Morgen ein neues Rangoli gemalt, woran ich mich schon einige Male versucht habe. Es macht viel Freude, die Schwelle gestalten zu dürfen, auch wenn es einiger Übung bedarf.





Deutlich angenehmer als der erste Ausflug ins Dorf sind unsere abendlichen Besuche des Gateshops, der direkt vor dem Tor der Nebenstraße liegt, in der wir wohnen. Hier wird heißer Chai serviert, der jedoch ohne Gewürze gekocht wird. Umso mehr Jaggery (unraffinierter Zuckersirup) kommt hinein, das wir auch in den vielfältigen Gebäcken wiederfinden. Wir nehmen sie in Zeitungspapier gewickelt mit zu einem See, der tief unter uns ruhig im Mondlicht schimmert, umgeben von schroffen Felswänden. Unter jungen Freiwilligen haben wir so Gelegenheit, die sonst so vollwertige Ernährung mit etwas zu viel Zucker auszugleichen.

Gateshop


Ein weiteres Highlight des Camphillalltags sind die Wochenenden. Die Friends genießen es, eine halbe Stunde später als gewohnt aufzustehen und den Tag entspannt angehen zu dürfen, statt Workshops gibt es den Beauty Parlour für alle Ladies, in denen sie mit Fußmassagen und Gesichtsmasken verwöhnt werden, oder auch Mehindi-Sessions, bei denen ich mein Glück im kunstvollen Zeichnen mit Henna versucht habe und froh war, dass diese Tattoos nur temporär sind. Etwas ganz Besonderes ist der Sonntagsspaziergang. Über 90 Minuten laufen wir über Stock und Stein, wobei sich rührende Pärchen bilden. Am letzten Sonntag nahmen wir es für ein besonders schönes Ziel sogar in Kauf, die Hauptstraße zu überqueren, wofür die Autos gestoppt werden und wir wie eine Herde Schafe in unterschiedlichem Tempo hinüber eilten. Über schlüpfrige Felsen liefen wir an einer Schlucht vorbei, auf deren Grund Frauen im Fluss ihre Wäsche wuschen, passierten wunderschön dekorierte Baufahrzeuge, Felder mit Termitenhügeln, die wie rote Türme aus dem grün ragen und Mauern, die statt Stacheldraht mit Glasscherben vor Eindringlingen geschützt waren. Ich stütze Mahitha auf ihrem Weg, die immer wieder strahlend auf Gegenstände zeigte, die so blau waren wie meine Kurta und mir eine passende Blüte pflückte. Schließlich fanden wir uns unter dem heiligen Banyan tree wieder, einem massiven lebendigen Kunstwerk. Wie eine Säulenformation vereinigten sich viele dicke Stämme zu einer einzigen mächtigen Krone, einem Baum, so riesig wie eine Kirche. An seinen Stämmen waren viele Götterdarstellungen angebracht und in seiner Mitte befand sich ein Schrein voller farbenfroher Dekorationen. Als ich ihn näher betrachten wollte, hielt mich zum Glück der Freund Vishvanath davon ab, ihn mit meinen Schuhen zu betreten und so den heiligen Ort zu beschmutzen. 









 

Leben im Camphill



Es ist Tag 15 im Camphill. Mit frischen Trauben aus dem Dorf neben mir sitze ich in der Bibliothek von Friends of Camhill India, im Schneidersitz, in der Freizeit wie auch beim Essen, im Workshop und zum Gebet. Ich esse von einem Teller aus Edelstahl, der sämtlichen Ausbrüchen der Special Friends gewachsen sind, in etwa dem Autisten Sathia der, wenn er gereizt ist, alles was ihm in die Finger kommt auf den Boden wirft und einem europäisch augestatteten Hauhalt sicher schon genug Scherben für lebenslanges Glück beschert hätte. 

Seite an Seite mit Sathia und 23 weiteren Friends lebe ich nun also, 45 Busminuten von Bangalore entfernt, in der kleinen Welt von "Friends of Camphill India". Ich teile meinen Alltag mit 15 Mitarbeitern. In Zeitspannen zwischen 3 Monaten (Volunteer) und 18 Jahren (Gründerin Francis) unterstützen wir unsere Mitbewohner dabei, die Gemeinschaft zu pflegen. Von 6.30h am Morgen bis zur Nachtruhe um 20.30h gestalten wir gemeinsam den Tag, ein Geflecht von Elementen, zu dem ein Jeder beiträgt, sei es das Tischdecken, Abwaschen, Bohnenpulen, Wäsche, oder der Hausputz, von der ersten Tasse Wasser bis zum Nachtgebet hat jeder Bewohner Aufgaben, die wir ebenso begleiten wie die Körperpflege und Freizeitgestaltung. 
Zum Alltag gehören, neben dem Reinhalten von Wohnraum und Körper, die Gebete. Sie werden am frühen Morgen, vor jeder Mahlzeit und zur Nachtruhe gesprochen, meist gesungen. Ein Großteil der Gebete sind Mantren, gesungene Gebete auf Sanskrit, deren Aussprache durchaus herausfordend sein kann. Ein morgendliches Mantra ist beispielsweise: 


Om Tryambakam Yajāmahe
Sugandhim Pushtivardhanam
Urvārukamiva Bandhanān
Mrityor Mukshīya Māamritāt (3x)

Wir verehren die Höchste Kosmische Wirklichkeit, die überallhin ausstrahlt und das Wohlergehen aller Wesen bewirkt. Möge diese Höchste Wirklichkeit uns innerlich reifen lassen, sodass wir die Höchste Unsterblichkeit erfahren.

Ganeshadarstellung im naheliegenden Tempel

Zentrum im Gebetskreis

Mittagessen


Das Essen wird mit der kleinen Zeremonie von Gebet und dem Ausspruch "Blessings on the Meal" in Ehren gehalten. Die Mahlzeit findet in Stille statt, sodass jeder konzentriert zu sich nimmt, was er braucht. Durchaus ungewohnt gegenüber den deutschen Tischmanieren ist zunächst die Abwesenheit eines Tisches. Wir sitzen auf Strohmatten auf dem Boden, vor uns der prall gefüllte Teller und beginnen zu essen, sobald uns serviert wird, weder mit dem Beginn des Essens noch mit dem Austehen wird auf die Anderen gewartet. Besteck gibt es nur zu europäischen Gerichten, das sind im Wochenverlauf genau drei: Porridge am Samstag und Gemüsesuppe mit selbstgebackenem Brot am Mittwoch und Samstagabend. Der Porridge ist das einzige süße Frühstück, alle anderen Gerichte sind reislastig, herzhaft und gut gewürzt, übrigens ausschließlich vegetarisch. Es hat einen hohen Stellenwert und zeichnet sich außerdem durch höchste Bio-Qualität und Frische aus. In jeder Mahlzeit steckt die Hilfe der Friends und Mitarbeiter und viel Energie der drei Köchinnen. 

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Jeder Wochentag ist auch ein Arbeitstag. Jeweils zwei Stunden am Vor- und Nachmittag verwendet die Gemeinschaft auf die Workshops. Hier fließen kreative Herausforderungen und Schaffenskraft in gemeinsame Arbeit. Garten, Bäckerei und Küche versorgen die Gemeinschaft, die Werkstätten produzieren Einnahmen. Sie befinden sich im Haus Panchanga, das eine fünfeckige Form hat. Im Mittelpunkt wird am Morgen gebetet, umgeben von den fünf Elementen: 

Vayu (Luft), die Stoffwerkstatt, 
Jal (Wasser), die Papierwerkstatt, 
Prithvi (Erde), die Holzwerkstatt, 
Agni (Feuer), die Kerzenwerkstatt 
und Akasha (Äther), der Ausgang.

Produziert werden die verschiedensten Gegenstände, die immer wieder durch neue Ideen ergänzt werden, wenn neue Mitarbeiter eine Werkstatt leiten. Auch die Friends werden einmal jährlich in neue Werkstätten eingeteilt, um ihren Horizont von Fertigkeiten zu erweitern.

Dabei brauchen die meisten Friends klare Ansagen. Meine europäische Höflichkeit habe ich nach wenigen Tagen abgelegt und durch einfachen Satzbau und eine lebendige Gestik ersetzt, die die Kommunikation mit jedem der Friends ermöglicht, denn auch zwei taube Ladies habe ich zu betreuen. Welche Behinderung die Friends haben, weiß ich in den seltensten Fällen, Fälle von Autismus und Trisomie 21 sind auszumachen, doch im Vordergrund steht es, unbefangen an den Menschen heranzutreten. Tag für Tag stehen für uns neu gegenüber, alle Beteiligten sind mal krank oder schlecht gelaunt, doch viele sind lange nicht so diplomatisch im Umgang mit schlechten Tagen, wie ich es von Zuhause gewohnt bin, es gibt Streit und Geschrei um die täglichen Aufgaben, Weigerungen das Bett zu verlassen und Konfrontationen mit anderen Friends. Es sind die Herausforderungen im Alltag von uns Freiwilligen, wenn wir Wege finden müssen, uns um einen Dickkopf herumzuwinden und den Tagesablauf - und somit das Wohlbefinden von min. 40 Personen - nicht zu gefährden. Das ist manchmal frustrierend, öfter Gewöhnungssache und noch öfter lustig. Fast jeden Abend sitzen die jungen Freiwilligen zusammen und tauschen witzige Momente des Tages aus. 

So ziehen die Tage dahin, gefüllt mit der Freude am ständigen Entdecken, Lernen, Verstehen, eine Fülle, die Schwer zu fassen und beschreiben ist.

Kokospalme im Garten: Das Kokosfett wird gewonnen und dient mir zur Körperpflege