18.8.17

Leben im Camphill



Es ist Tag 15 im Camphill. Mit frischen Trauben aus dem Dorf neben mir sitze ich in der Bibliothek von Friends of Camhill India, im Schneidersitz, in der Freizeit wie auch beim Essen, im Workshop und zum Gebet. Ich esse von einem Teller aus Edelstahl, der sämtlichen Ausbrüchen der Special Friends gewachsen sind, in etwa dem Autisten Sathia der, wenn er gereizt ist, alles was ihm in die Finger kommt auf den Boden wirft und einem europäisch augestatteten Hauhalt sicher schon genug Scherben für lebenslanges Glück beschert hätte. 

Seite an Seite mit Sathia und 23 weiteren Friends lebe ich nun also, 45 Busminuten von Bangalore entfernt, in der kleinen Welt von "Friends of Camphill India". Ich teile meinen Alltag mit 15 Mitarbeitern. In Zeitspannen zwischen 3 Monaten (Volunteer) und 18 Jahren (Gründerin Francis) unterstützen wir unsere Mitbewohner dabei, die Gemeinschaft zu pflegen. Von 6.30h am Morgen bis zur Nachtruhe um 20.30h gestalten wir gemeinsam den Tag, ein Geflecht von Elementen, zu dem ein Jeder beiträgt, sei es das Tischdecken, Abwaschen, Bohnenpulen, Wäsche, oder der Hausputz, von der ersten Tasse Wasser bis zum Nachtgebet hat jeder Bewohner Aufgaben, die wir ebenso begleiten wie die Körperpflege und Freizeitgestaltung. 
Zum Alltag gehören, neben dem Reinhalten von Wohnraum und Körper, die Gebete. Sie werden am frühen Morgen, vor jeder Mahlzeit und zur Nachtruhe gesprochen, meist gesungen. Ein Großteil der Gebete sind Mantren, gesungene Gebete auf Sanskrit, deren Aussprache durchaus herausfordend sein kann. Ein morgendliches Mantra ist beispielsweise: 


Om Tryambakam Yajāmahe
Sugandhim Pushtivardhanam
Urvārukamiva Bandhanān
Mrityor Mukshīya Māamritāt (3x)

Wir verehren die Höchste Kosmische Wirklichkeit, die überallhin ausstrahlt und das Wohlergehen aller Wesen bewirkt. Möge diese Höchste Wirklichkeit uns innerlich reifen lassen, sodass wir die Höchste Unsterblichkeit erfahren.

Ganeshadarstellung im naheliegenden Tempel

Zentrum im Gebetskreis

Mittagessen


Das Essen wird mit der kleinen Zeremonie von Gebet und dem Ausspruch "Blessings on the Meal" in Ehren gehalten. Die Mahlzeit findet in Stille statt, sodass jeder konzentriert zu sich nimmt, was er braucht. Durchaus ungewohnt gegenüber den deutschen Tischmanieren ist zunächst die Abwesenheit eines Tisches. Wir sitzen auf Strohmatten auf dem Boden, vor uns der prall gefüllte Teller und beginnen zu essen, sobald uns serviert wird, weder mit dem Beginn des Essens noch mit dem Austehen wird auf die Anderen gewartet. Besteck gibt es nur zu europäischen Gerichten, das sind im Wochenverlauf genau drei: Porridge am Samstag und Gemüsesuppe mit selbstgebackenem Brot am Mittwoch und Samstagabend. Der Porridge ist das einzige süße Frühstück, alle anderen Gerichte sind reislastig, herzhaft und gut gewürzt, übrigens ausschließlich vegetarisch. Es hat einen hohen Stellenwert und zeichnet sich außerdem durch höchste Bio-Qualität und Frische aus. In jeder Mahlzeit steckt die Hilfe der Friends und Mitarbeiter und viel Energie der drei Köchinnen. 

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Jeder Wochentag ist auch ein Arbeitstag. Jeweils zwei Stunden am Vor- und Nachmittag verwendet die Gemeinschaft auf die Workshops. Hier fließen kreative Herausforderungen und Schaffenskraft in gemeinsame Arbeit. Garten, Bäckerei und Küche versorgen die Gemeinschaft, die Werkstätten produzieren Einnahmen. Sie befinden sich im Haus Panchanga, das eine fünfeckige Form hat. Im Mittelpunkt wird am Morgen gebetet, umgeben von den fünf Elementen: 

Vayu (Luft), die Stoffwerkstatt, 
Jal (Wasser), die Papierwerkstatt, 
Prithvi (Erde), die Holzwerkstatt, 
Agni (Feuer), die Kerzenwerkstatt 
und Akasha (Äther), der Ausgang.

Produziert werden die verschiedensten Gegenstände, die immer wieder durch neue Ideen ergänzt werden, wenn neue Mitarbeiter eine Werkstatt leiten. Auch die Friends werden einmal jährlich in neue Werkstätten eingeteilt, um ihren Horizont von Fertigkeiten zu erweitern.

Dabei brauchen die meisten Friends klare Ansagen. Meine europäische Höflichkeit habe ich nach wenigen Tagen abgelegt und durch einfachen Satzbau und eine lebendige Gestik ersetzt, die die Kommunikation mit jedem der Friends ermöglicht, denn auch zwei taube Ladies habe ich zu betreuen. Welche Behinderung die Friends haben, weiß ich in den seltensten Fällen, Fälle von Autismus und Trisomie 21 sind auszumachen, doch im Vordergrund steht es, unbefangen an den Menschen heranzutreten. Tag für Tag stehen für uns neu gegenüber, alle Beteiligten sind mal krank oder schlecht gelaunt, doch viele sind lange nicht so diplomatisch im Umgang mit schlechten Tagen, wie ich es von Zuhause gewohnt bin, es gibt Streit und Geschrei um die täglichen Aufgaben, Weigerungen das Bett zu verlassen und Konfrontationen mit anderen Friends. Es sind die Herausforderungen im Alltag von uns Freiwilligen, wenn wir Wege finden müssen, uns um einen Dickkopf herumzuwinden und den Tagesablauf - und somit das Wohlbefinden von min. 40 Personen - nicht zu gefährden. Das ist manchmal frustrierend, öfter Gewöhnungssache und noch öfter lustig. Fast jeden Abend sitzen die jungen Freiwilligen zusammen und tauschen witzige Momente des Tages aus. 

So ziehen die Tage dahin, gefüllt mit der Freude am ständigen Entdecken, Lernen, Verstehen, eine Fülle, die Schwer zu fassen und beschreiben ist.

Kokospalme im Garten: Das Kokosfett wird gewonnen und dient mir zur Körperpflege



1 Kommentar:

Hannelie hat gesagt…

Alles erdenklich Gute für dich weiterhin.

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