8.8.18

Versuch eines Fazits

Dieses Jahr zusammenfassen zu wollen ist nicht nur schwierig wegen all der unterschiedlichen Dinge die geschehen sind, es widerstrebt mir auch eine Erfahrung, die mein Leben in all seinen Aspekten betroffen hat, in wenigen Worten festhalten zu wollen. Ganz ehrlich - mir bangt es vor der Frage "Na, wie war's denn in Indien?" oder, noch schlimmer, "Wie sind denn die Inder so?".
Dass mir diese Fragen trotzdem bevorstehen ist selbstverstaendlich und vor einem Jahr  habe ich den Dienst noch als kulturellen Austausch angepriesen. Dem stelle ich mich hiermit.


Ein paar Gedanken zu Kulturellem.

Die Kultur Indiens begegnete mir Stueck fuer Stueck im Verlauf des Jahres in grossen Momenten wie den hinduistischen Festivals, in kleinen Begegnungen mit Andersdenkenden oder raetselhafter Tradition, die kaum noch jemand zu begruenden weiss. Eine durchaus wichtige Begegnung, vor allen Dingen diejenige mit einer Gesellschaft, in der die Schere um vielfaches weiter auseinenderklafft, als in Deutschland vorstellbar. Eigentlich sind es mehrere Parallelgesellschaften, die ohne Beruehrungspunkte auskommen und deren Unverstaendnis fuereinander ein Klotz am Bein der Entwicklung des Landes ist. Bestes Beispiel dafuer ist der Umweltschutz, ueber den sich nur diejenigen ernsthaft Gedanken machen, die es sich leisten koennen. Ein Suendenbock ist im Lebensstil "der Anderen" schnell gefunden und die eigene Verantwortung soweit begrenzt, das nichts anderes als die alte Bequemlichkeit uebrig bleibt. Wenn ich es so niederschreibe, beschraenkt sich das Beispiel allerdings ueberhaupt nicht auf Indien...

Spannend war es auch, die friedliche Religionsvielfalt zu erleben. Die Daecher (nahezu) jeder Stadt werden ueberragt von Moscheen, Kirchen und Hindutempeln in unmittelbarer Naehe zu einander, unsichtbar daneben kleinere Religionsgemeinschaften ohne eigenes Gotteshaus. Die Menschen auf den Strassen sind alle gleich.

Aussaetzige waren dagegen wir, die Weissen, oftmals unangenehm beruehrt von Neugierde, Selfie-Wuenschen, immer gleichen Fragen ("Which country madam?"). Ich empfinde inzwischen Ehrfurcht in Anbetracht des selbstverstaendlichen Respektes, der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die uns stets entgegengebracht wurde. In den ersten Monaten hat es mich schockiert, dass "die Weissen", die schon so viel Leid gebracht haben, solchen Respekt erhalten. In Touristenzentren ist jeder Weisser bares Geld, doch auch wenn ich in einem abgelegenen Dorf ein wenig verloren aussehe, kann ich sicher sein, dass man auf mich zukommt und mir Essen und Trinken angeboten wird. Solch eine Szene kann ich mir fuer einen jungen Inder in Deutschland nicht vorstellen.

Als sehr wertvoll habe ich es wahrgenommen, welch eine unangezweifelte Wichtigkeit Spiritualitaet in Indien hat. Alle Inder fuehlen sich einer Religionsgemeinschaft zugehoerig, in Deutschland sind es weniger als zwei Drittel. Fuer mich spricht das von einem anderen Bewusstsein fuer Zusammengehoerigkeit auf einer hoeheren Ebene. Religion gehoert ganz selbstverstaendlich dazu, das ist bei jedem Tempelbesuch spuerbar in der Lebendigkeit der Versammelten. Gleichzeitig zum individuellen Gebet mit Opfergaben wird laut mit Bekannten geschwatzt, Kinder spielen auf Goetterstatuen, es finden Mahlzeiten statt und mittendrin trommelt eine Hochzeitsgesellschaft. Ernsthafte Geschaeftsmaenner handeln den Erfolg ihrer Deals auch mit den Goettern aus, bei Erfolg profitiert dann der Tempel finanziell kraeftig mit.

Die Sagenwelt der Hindugoetter ist ausschweifend und reich an Symbolkraft, Heldenerzaehlungen sind hier ebenso zu finden wie spirituelle Botschaften. Ich kann es nur empfehlen, sich naeher auseinanderzusetzen mit Mahabharata, Bagavadhgita und co. Noch konkreter richtungsweisend sind die buddhistischen Schriften, deren erste ebenso in Indien entstanden sind. Ihre Anwendbarkeit zeigt sich durch die Praesenz der selben Grundideen in saemtlichen Pop-Lebensphilosophien.


Kultur pur in Tempelstadt Hampi


Lingam, Symbol des Gottes Shiva, in Hampi

Es laesst sich nicht aufschreiben, was erlebt werden muss.


Und, wie war die Arbeit so?
 
Es war viel und es war reich und es war anders, unvergleichlich. Ich kann es nicht einmal vergleichen mit den Erfahrungen, die andere Freiwillige in der selben Einrichtung gemacht haben, denn fuer jeden von uns bedeutet dieses Jahr eine besondere Episode in unserer eigenen Entwicklung. Entwicklungshilfe haben wir also tatsaechlich betrieben, nur eben als Selbstretter, nicht als Weltretter. 

Meine Erfahrung hat vor allem die Kultur der Camphillbewegung ausgemacht. Der europaeische Einfluss, den man im Camphill spueren kann, hat meinen Kulturschock abgefedert,  soweit reicht die theoretische Erklaerung eines Gefuehls, das vom ersten Tag an  Zugehoerigkeit war. Tatsaechlich ist es die Natur der Gemeinschaft, dass das um-einander-Kuemmern, welches jeder Einzelne als Lebensmittelpunkt versteht, ein echtes Zuhause bietet. Ein Zuhause fuer uns ganz genauso wie fuer die Bewohner, die Friends. Selbst ein Kuemmerer zu werden, die Verantwortung fuer das Wohlergehen anderer zu haben, gab mir die wichtigste Aufgabe, die ein Mensch im Leben haben kann. 

Verantwortung uebernehmen beschreibt die Lebensweise im Camphill wirklich gut. Es ist eine Notwendigkeit, die unsere Special friends ausloesen, Entscheidungen auf bewusste Art und Weise zu treffen, das betrifft die Themen Ernaehrung, Konsum, Koerperpflege, Sozialleben und Sexualitaet, Arbeit etc., eben alles, was zum Leben dazugehoert. Es resultiert eine nachhaltige Lebensweise, die uns auch verantwortlicher unseren eigenen Beduerfnissen gegenueber macht. Es ist leichter, das eigene Beduerfnis nach spirituellem Gleichgewicht zu ignorieren, als das Beduerfnis eines anderen, dessen Leben unbestimmt ist von "Wichtigerem", vorgeschobenen Gruenden, Verpflichtungen, Verknechtungen. Die Abwesenheit dieser Schichten macht das Leben im Camphill so besonders, es ist frei von gesellschaftlichen Zwaengen, bestimmt nur von tatsaechlichen Notwendigkeiten und letztendlich vom sich-entfalten-Wollen. Da ist die Bereitschaft, zu hinterfragen, was Norm ist und tiefer zu gehen in der Frage, was ein gutes Leben ist, da ist ein unbegrenzter Wachstumsprozess, der jeden Friend betrifft und jeden Freiwilligen betrifft.

Ein verantwortungsbewusstes Leben zu fuehren, das hat mit mir resoniert, das hat mich bewegt zu investieren in jede Beziehung, jede Konsumentscheidung und jeden Tag. Fuer ein Jahr als Teil eines Ideals leben zu duerfen hat mich geformt und mir Ueberzeugung geschenkt. Es ist das wertvollste Geschenk ueberhaupt und ich bin mir darueber im Klaren, welch privilegierte Poition ich als Empfaenger inne habe. An dieser Stelle moechte ich mich fuer das Geschenk diesen Jahres bedanken. Ich schaetze es sehr was meine Familie, alle Spender, die Entsendeorganisation "Freunde", die weltwaerts Verantwortlichen, alle Camphiller moeglich gemacht haben. Danke.




Mein Fazit

Wenn eure Soehne, Toechter, Nichten, Neffen, Patenkinder, Geschwister nicht genau wissen wohin, helft ihnen, ihren Weg zu suchen! Ganz weit weg zu gehen fuehrt uns zu unserer Mitte und kann uns mit unseren Wuenschen und Werten fuer die Gegenwart und Zukunft verbinden.

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